Feuilleton

Bundestagswahl 2021 - Historische Wende?

Und was jetzt?

 

„Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen“ ist ein bekanntes Zitat unseres verehrten Nationaldichters Johann Wolfgang von Goethe. Allerdings ist der historisch-politische Sinn dieser Aussage in vielen Aspekten unklar – und nicht zuletzt damit vielleicht typisch deutsch.

Eine dieser Unklarheiten besteht darin, dass niemand außer Goethe sich an diese angeblich getroffene Einschätzung erinnern konnte. Selbst dem Meister fiel sie erst bei der Abfassung seines autobiografischen Berichts über „Eine Kampagne in Frankreich“ 30 Jahre später „wieder“ ein. Hat er das wirklich geäußert? Und wenn ja, was meinte er eigentlich damit? Schließlich war er im Tross des Generalfeldmarschalls Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweigs als eine Art Kriegsreporter und Leitmedien-Vertreter nach Frankreich gezogen.

Die Absicht dieser militärischen Operation im Sommer 1792 bestand dabei eindeutig darin, der Französischen Revolution den Todesstoß zu versetzen. Das gelang zwar nicht, denn die „Kanonade von Valmy“, auf welche sich seine Aussage bezog, war weder kriegsentscheidend noch allzu wirksam – wenn auch beeindruckend. Und sie forderte auf beiden Seiten eine erfreulich geringe Anzahl von Opfern. Wo also sah der Dichterfürst die epochale Bedeutung? In seiner eigenen Anwesenheit? Als Parteigänger der Französischen Revolution dürfte er schließlich kaum gelten, schon gar nicht bei seiner ersten Niederschrift im Jahr 1820.

Aber lassen wir die Literaturwissenschaftler ruhig weiter über Goethes Absichten rätseln und theoretisieren. Viel interessanter ist, dass dieses Zitat nach seiner Veröffentlichung Allgemeingut wurde, so zu sagen viral ging. Es ist seither fest verbunden mit dem historischen Ereignis einer eigentlich unbedeutenden Kanonade und wird ohne Betrachtung des historischen Hintergrundes genutzt. Der Mainstream hatte es vereinnahmt und startete damit unbeeindruckt in die so gar nicht heroische Biedermeierzeit. Die angeblich glorreichen Zeiten folgten dann allerdings später.

Dieses Beispiel zeigt, wie hoffnungslos unklar und relativ der Begriff des „epochalen Ereignisses“ ist. In dem Moment, wenn es stattfindet, wird es in den seltensten Fällen als solches identifiziert. Und im Nachhinein gibt es dann eine unendliche Anzahl von Wertungen und Einschätzungen. Im besten Falle endet es schließlich als eine Legende, die mit dem wirklichen Vorfall recht wenig zu tun hat.

Der listige Halbsatz „Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen“ spielt dabei übrigens eine wichtige Rolle. Wer möchte nicht „dabei gewesen sein“, etwa beim Mauerbau in Berlin oder beim Fall der Mauer 28 Jahre später? Oder welche deutschen historischen Ereignisse gibt es noch, bei denen ein heute lebender einfacher deutscher Bürger „dabei gewesen“ sein kann? Wenige sicherlich, und auch deren Bedeutung ist oft umstritten. Es lohnt sich jedoch, darüber nachzudenken.

Aber vielleicht steht uns gerade jetzt ein solches epochales Ereignis ins Haus? Zwar kündigen sich historische Geschehnisse nicht konkret an, aber sie finden meist in bestimmten unübersichtlichen Situationen statt, im Umfeld von Krisen, Revolutionen und anderen gesellschaftlichen Spannungen. Genau in einer solchen Lage befinden wir uns derzeit, und zwar weltweit, ohne Zweifel.

Und nun – bitte nicht lachen – was wäre, wenn sich die anstehende Bundestagswahl am 26. September später als ein solches epochales Ereignis erweisen sollte, wenigstens für Deutschland? Was wäre, wenn in ein paar Jahrzehnten die Legende – begründet oder aufgebauscht – entstehen würde, dass an diesem Tag die Weichen gestellt wurden für eine Entwicklung zum neuen, veränderten Deutschland?

Was für ein Deutschland das sein könnte? Das weiß heute niemand. Aber sicher ist, dass große Veränderungen anstehen, und dass bereits in wenigen Jahren vieles, was wir heute für selbstverständlich ansehen, nicht mehr gelten wird. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Dinge entwickeln, haben wir ja auch in den vergangenen fast zwei Jahren bereits mit Staunen kennengelernt.

Wer hat da noch die Hoffnung, dass alles einmal wieder so werden könnte, wie es einmal war? Oder wäre das sowieso eher eine Befürchtung? Die existenziellen Probleme, die wir heute lösen müssen, sind schließlich nicht plötzlich entstanden. Sie haben sich über viele Jahre aufgebaut. Nun müssen sie gelöst werden, so oder so.

Aber wie denn nun genau? Diese Entscheidung muss jeder von uns in diesem September treffen. Allerdings ist klar, wohin ein Votum führt, das keine grundsätzlichen Verschiebungen der Machtverhältnisse im Parlament bewirkt und dessen Selbstreinigung und Reformierung verhindert.

„Weiter so“ bedeutet nämlich die – vorläufige – Erhaltung der Macht von Parteien und Politkern, die ihre Legitimität bereits jetzt verloren haben. Lässt sich eine auch nur erträgliche Zukunft mit einem Parlament gestalten, das keine echte Opposition mehr kennt? Gelingt der Aufbau einer humanen Gesellschaft unter den Bedingungen der 4. Industriellen Revolution und des Klimawandels mit einem Parlament, das dem Grundsatz der Gewissensfreiheit der Abgeordneten eigentlich niemals gerecht geworden ist? Was kann ein Parlament bewirken, das in vielen Bereichen keinen Änderungsbedarf erkennt und der Regierung keinen Einhalt gebietet? Was ist ein Parlament wert, das der Regierung keine Grenzen setzt: Nicht ihrer brandgefährlichen Währungspolitik, nicht ihrer nicht weniger existenzbedrohenden Wirtschaftspolitik, die den Mittelstand systematisch zugrunde richtet und ihrer Innenpolitik, die entweder infolge der Unfähigkeit oder des Machtrauschs der beteiligten Politiker aus immer wieder erneuerten Einschränkungen der Freiheitsrechte besteht?

Wer sich mit der einfachen Fortschreibung dieser Politik abfinden kann, sollte konsequent eine der derzeit im Bundestag vertreten Parteien wählen und hoffen, dass alles gut geht – was immer das auch bedeutet. Das ist der bequeme, ausgetretene Pfad. Wesentlich weniger komfortabel wird es sein, neue Wege zu beschreiten, deren Verlauf noch niemand kennt. Welche Partei soll man dazu wählen, welchen Wahlkreiskandidaten? Oder ist es besser, gar nicht teilzunehmen? Aber das wäre schließlich nur eine Variante der ersten Möglichkeit, des „weiter so“, der Illusion, es würde sich alles von selbst richten. Wird es nicht, denn wenn dieselben Politiker wie bisher weiter machen dürfen ist klar, wohin der Weg führt.

Und damit ist auch klar, dass Sie dabei sein werden, ob Sie nun wollen oder nicht. Freuen Sie sich darüber, und setzen Sie diese Freude in Energie und Aktivität um! Denken Sie nach und wählen Sie so, dass sie es später nicht bereuen müssen. Treffen Sie eine Entscheidung für Veränderungen, die nicht in eine Spaltung der Nation in wenige Superreiche und mächtige Politiker und sehr, sehr viele verarmte und entrechtete Menschen führt.

Oder wollen Sie am Ende zu den Leuten gehören, die „nichts besitzen, glücklich sind“ und hin und wieder eine Bratwurst spendiert bekommen, wenn sie brav waren? Wollen Sie ein solches Deutschland, das all den historisch gewachsenen Klischeevorstellungen über unsere Nation gerecht wird? Wollen Sie in diesem Sinne dabei sein – und mitverantwortlich?

Aber vielleicht steht ja Goethe gar nicht so für „typisch deutsch“ in seiner Unbestimmtheit und mit seiner Bereitschaft, dem Generalfeldmarschall und seinem Provinzfürsten zu folgen. Wir hatten ja schließlich noch einen weiteren Nationaldichter: Friedrich Schiller. Der war oft sehr klar und eindeutig in seinen Aussagen – und im damaligen gesellschaftlichen Verständnis der deutschen Fürstentümer ein absoluter Querdenker:

 

Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,

Und würd er in Ketten geboren,

Lasst euch nicht irren des Pöbels Geschrei,

Nicht den Missbrauch rasender Toren.

Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,

Vor dem freien Menschen erzittert nicht.

 

Klingt doch schon mehr nach epochalen Ereignissen, oder? Und tatsächlich: Nach der Biedermeierzeit und dem Vormärz folgte die Revolution von 1848. Und nach weiteren 100 Jahren und einer Reihe von schweren Katastrophen trat das Grundgesetz in Kraft.

Und was jetzt?

i.b.

 

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